Die Behandlung von Kursgewinnsteuern; Unternehmenswert der Linde AG um mehr als eine Milliarde Euro verkürzt
Nach dem für Wirtschaftsprüfer in Deutschland „heiligen“ IDW S 1 (Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen) ist bei gesellschaftsrechtlichen und vertraglichen Bewertungsanlässen der objektivierte Unternehmenswert aus der Perspektive einer inländischen unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Person als Anteilseigner zu ermitteln.
Daraus folgert der IDW, dass geplante Ausschüttungen mit dem vollen und Wertbeiträge aus Thesaurierung mit dem halben Abgeltungssteuersatz zu belegen sind. Diskussionen dazu, dass vor dem Hintergrund bekannter und von der Deutschen Bundesbank stets aktualisierter Anlagerstrukturen (die Mehrheit der Aktionäre sind nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegende, institutionelle, insbesondere ausländische, Anleger) mit einer solchen Typisierung die Ausnahme in rechtswidriger Weise zur Regel erhoben wird, sind Spruchgerichte selten zugänglich.
Nicht zuletzt diese Haltung hat dazu geführt, dass die Bewertungsindustrie versucht, noch einen draufzusetzen: Für Wertbeiträge aus Thesaurierung soll nicht mehr nur der halbe Abgeltungssteuersatz, sondern ein um Inflationseinflüsse erhöhter Steuersatz zur Anwendung gelangen. Für die Bewertung der Anteile an der Sky Deutschland AG etwa wurde ein Steuersatz von rund 23 Prozent zugrunde gelegt. Im Fall des Ausschlusses der Minderheitsaktionäre der Linde AG wurde auf diese Weise der Unternehmenswert um mehr als eine Milliarde Euro und die den außenstehenden Aktionären zu gewährende Barabfindung um rund 85 Mill. Euro gekürzt.
Dieser Praxis hat erstmals das Landgericht München I einen Riegel vorgeschoben:
„Dagegen unterliegen inflationsbedingte Kursgewinne keiner Besteuerung. Zwar, wird teilweise in der Literatur angenommen, erst durch die konsistente Berücksichtigung der effektiven Steuerlast auf die inflationsbedingten (Schein-)Gewinne werde die Steueräquivalenz zwischen Bewertungsobjekt und Alternativanlage wieder hergestellt, und es würden dadurch Inkonsistenzen aufgrund des Steuerparadoxons vermieden (so WP-Handbuch 2014, Bd. 2, Rdn. 399). Diesem Ansatz vermag die Kammer indes nicht zu folgen, weil es dadurch beim Bewertungskalkül zu Unvereinbarkeiten zwischen dem Zähler und dem Nenner kommt. Im Unternehmensergebnis, das im Zähler des Bewertungskalküls abgebildet wird, kommt es durch den Ansatz der Besteuerung der Scheingewinne zu einer Minderung des Unternehmenswertes. Wenn allerdings diese Steuer im Zähler beachtet wird, müsste sie in gleicher Weise auch im Nenner angesetzt werden. Im Nenner – also beim Kapitalisierungszinssatz – wird dann allerdings nach der Systematik der Bewertung im Ertragswertverfahren eine lnflationsgewinnbesteuerung nicht eingerechnet Dies müsste jedoch erfolgen, um die Vergleichbarkeit von Zähler und Nenner zu gewährleisten. Dieser Ansatz wäre jedoch nach den überzeugenden Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Jonas im Termin vom 14.12.2017 mit der Herleitung des Risikozuschlags aus vergangenheitsbezogenen Werten nicht vereinbar.“
(LG München I vom 29. August 2018 – 5 HK O 16585/15 – Seite 84)
Zwar hatte sich dieses – von KPMG und Ebner Stolz interessenorientiert entwickelte Modell – in der Bewertungspraxis nicht allgemein durchgesetzt; schon jetzt aber steht zu erwarten, dass sich die Bewertungsindustrie umso stärker für die Durchsetzung ihrer Partikularinteressen einsetzen und den Beschluss des Landgerichts München I mit allen Mitteln bekämpfen wird.
Solange ihr dies nicht gelingt, ist in allen Spruchverfahren die Entscheidung des Landgerichts München I zitierfähig und kann zur Begründung von Einwänden gegen die prognostizierten finanziellen Überschüsse herangezogen werden.